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Veröffentlichungen - Walter-Siegfried Kircher
 

Constantin Maximilian Maria FĂŒrst v. Waldburg-Zeil-Trauchburg. In: Neue Deutsche Biographie. Herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27: Vockerodt - Wettiner, Duncker & Humblot / Berlin 2020, S. 287 - 289:

Constantin Maximilian Maria FĂŒrst v. W.-Zeil-Trauchburg, Politiker, Großgrundbesitzer, T 8.1.1807 Kleinheubach (Bayern), † 17.12. 1862 Kenzingen (Baden), f Leutkirch, Schloß Zeil, Stifts- und Pfarrkirche, Familiengruft. (kath.)V Franz ThaddĂ€us II. (1778–1845), 2. FĂŒrst v. W.Z.-T., Senior d. Ges.hauses W., 1808 wĂŒrtt. Kammerherr u. GR, Landvogt am Oberen Neckar, PrĂ€s. d. Jagstkreises Ellwangen u. d. StĂ€ndeverslg. 1819, VizeprĂ€s. d. Kammer d. Standesherren 1820/21 u. 1823/24, Mitgl. d. Kammer bis 1845, vertreten durch Erbgf. Constantin seit 1833/35, S d. Maximilian Wunibald (1750–1818), 1803 1. FĂŒrst v. W.-Z.-T. (s. L), u. d. Maria Johanna Josepha Reichsfreiin v. Hornstein-Weiterdingen (1751–97); M Christiane Polyxena (1782–1811), T d. Dominikus Constantin FĂŒrst zu Löwenstein-Wertheim-Rochefort (1762– 1814), preuß. Gen.major, bayer. Gen.lt., seit 1789 reg. FĂŒrst, s. Priesdorff III, Nr. 797; NDB 15, Fam. art.), u. d. Leopoldine Prn. zu Hohenlohe-Bartenstein (1761–1807); seit 1818 Stief-M Antoinette (1790–1819), T d. Clemens August Frhr. v. d. Wenge-Beck (1740–1818) u. d. Maria Ludovika Freiin v. Eynatten (1748–1803), seit 1820 Theresia (1788– 1864), Schw d. Antoinette Freiin v. d. Wenge-Beck (s. o.); – Om Constantin Ludwig Karl Prinz zu Löwenstein-Wertheim-Rosenberg (1786–1844), bayer. Gen.lt. u. Gen.adjutant am Hof d. bayer. Kg. Ludwig I., Karl FĂŒrst zu Löwenstein-Wertheim-Rosenberg (1783–1849), Standesherr in Baden, Bayern, Hessen u. WĂŒrtt., Reichsrat d. Krone Bayerns, k. k. Wirkl. KĂ€mmerer u. GFM, bayer. Gen. d. Inf.; 2 B, 1 Schw Leopoldine (1811–86, a Maximilian Gf. v. Arco-Zinneberg, 1811–85, Vorbild f. „Graf Egge“ in L. Ganghofers Roman „Schloß Hubertus“), 3 Halb-B u. a. Georg (1823–66), Jesuit, „VolkskommissionĂ€r“ (Volksprediger) (s. L), 2 Halb-Schw u. a. Anna (1821– 49, a Maximilian Gf. v. Preysing-Lichtenegg-Moos, 1810–81, Reichsrat d. Krone Bayerns, s. NDB 20, Fam.art.); – a Isny 1833 Maximiliane (1813–74),T d. Wilhelm Otto Gf. v. Quadt-Wykradt-Isny (1783– 1849) u. d. Maria Anna Gfn. v. Thurn u. Valsassina (1788–1867); 3 S Wilhelm Franz Maria (1835–1906, a 1] Maria Josepha Anna Gfn. v. Waldburg-WolfeggWaldsee, 1840–85, 2] Marie Georgine Prn. v. Thurn u. Taxis, 1857–1909), 4. FĂŒrst v. W.-Z.-T., 1862–1906 erbl. Mitgl. u. 1872–99 PrĂ€s. d. Kammer d. Standesherren d. Kg. WĂŒrtt., erbl. Mitgl. d. Kammer d. ReichsrĂ€te d. Kg. Bayern, 1871–73 Mitgl. d. RT d. Dt. Reichs, Fraktion Dt. Reichspartei, Constantin Leopold Karl (1839–1905), Gf. v. W.-Z.-T., Zentrumsabg. im RT 1874–87, Mitgl. d. Vorstands d. RTfraktion, Kritiker Bismarcks u. d. Nat.liberalen, Carl Joseph, seit 1885 Gf. v. W.-Z.-Syrgenstein (1841–90, a Sophie Gfn. v. W.-Z.-T., 1857–1924, Dichterin, T d. FĂŒrsten Eberhard II. v. W.-Z.-Wurzach), Forsch.reisender, 1879 Mitgl. d. Leopoldina (s. L), 3 T (2 frĂŒh †) Anna Maria Desiderata (1844–77, a Nikolaus Rudolph Frhr. v. Enzberg); E Georg (1867–1918 g), wĂŒrtt. Major, 5. FĂŒrst v. W.-Z.-T.; Ur-EErich August (1899–1953, Verkehrsunfall), 6. FĂŒrst v. W.-Z.-T.; Urur-E Georg Konstantin, seit 1953 7. FĂŒrst v. W.-Z.T (1928–2015, a Marie Gabrielle Prn. v. Bayern, T 1931, Ehrendame d. bayer. Theresienordens, Dame d. St. Elisabethen-Ordens, Ehren- u. Devotionsdame d. souverĂ€nen Malteserritterordens, T d. Albrecht Hzg. v. Bayern, 1905–96), Dipl.-Volkswirt, Untern., Ehrensenator d. Univ. Ulm. W. erhielt eine streng konservative Erziehung im Geist der kath. Erneuerungsbewegung. Er wurde vorwiegend von einem fĂŒrstl. Hofmeister privat unterrichtet, u. a. in Neutrauchburg, Kempten, Landshut, wo der Theologe Johann Michael Sailer (1751–1832) sein Beichtvater war, und in Freiburg (Br.). 1824–28 studierte W., ohne das Ziel, einen Abschluß zu erlangen, u. a. Philosophie, Rechtswissenschaften und Staatsrecht in Freiburg (Br.) (Mitgl. d. Corps Rhenania), MĂŒnchen und TĂŒbingen. 1830–32 unternahm er mehrere Bildungsreisen durch Europa. Einfluß auf seine politischen Ansichten ĂŒbte sein Onkel Constantin Ludwig Prinz zu Löwenstein-Wertheim-Rosenberg aus, der in Bayern zu den „Ultramontanen“ und ParteigĂ€ngern Österreichs zĂ€hlte. W. vertrat seit 1833/35 mehrfach seinen Vater in der Kammer der Standesherren des Kgr. WĂŒrttemberg und erlangte noch zu dessen Lebzeiten fĂŒr seine Familie die erbliche und fĂŒr seine Person die persönliche ReichsratswĂŒrde des Kgr. Bayern. Nach dem Tod seines Vaters 1845 wurde er erbliches Mitglied der wĂŒrtt. Kammer der Standesherren sowie der Kammer der ReichsrĂ€te des Kgr. Bayern, 1847 VizeprĂ€sident der wĂŒrtt. Kammer wĂ€hrend des 13. (ao.) Landtags und Vorsitzender des StĂ€ndischen Ausschusses der beiden wĂŒrtt. Kammern, 1861 Senior des Gesamthauses Waldburg und damit Reichserboberhofmeister des Kgr. WĂŒrttemberg (Kronamt).

Zeitlebens beklagte W. den durch SĂ€kularisation und Mediatisierung erlittenen Verlust der Reichsunmittelbarkeit und der Reichsstandschaft seines Hauses sowie die SchwĂ€chung der kath. Kirche. Obgleich nun Untertanen im neuen Kgr. WĂŒrttemberg, wo die Waldburger v.a. begĂŒtert waren, genossen die Mediatisierten Sonderprivilegien. W. engagierte sich seit 1830 in Zeitschriftenund ZeitungsbeitrĂ€gen (Allg. Rel.- u. Kirchenfreund u. Kirchencorrespondent, Hist.-Pol. Bll., Sion) fĂŒr den Erhalt der Adelsprivilegien, die UnabhĂ€ngigkeit der kath. Kirche und die Erlaubnis, kath. Presseorgane und Vereine in WĂŒrttemberg zu grĂŒnden. Scharfe Kritik ĂŒbte er an BĂŒrokratie und Staatskirchensystem in WĂŒrttemberg. Anfang der 1840er Jahre organisierte er in Kirchenfragen eine standesherrliche Einheitsfront gegen die Regierung sowie 1844/45 bei Landtagswahlen eine Adel, kath. Geistliche und oberschwĂ€b. Landbevölkerung umfassende Opposition. In Bayern förderte er um 1840 die Zeitschrift „FrĂ€nkischer Courier“ finanziell und veröffentlichte dort Artikel v.a. ĂŒber die kirchlichen VerhĂ€ltnisse in WĂŒrttemberg. In der bayer. ReichsrĂ€tekammer unterstĂŒtzte W. 1846 den kath.-konservativen Kurs von Innenminister Karl Rr. v. Abel (1788–1859). Offen bekannte er sich als „Ultramontaner“. Liberale Ideen und Forderungen verabscheute er prinzipiell, Revolutionen wie in Frankreich hielt er fĂŒr „Anarchie“.

Das Revolutionsjahr 1848, die drohende endgĂŒltige Ablösung der grundherrschaftlichen VerhĂ€ltnisse und damit der Verlust der privilegierten Adelsexistenz bewirkten eine spektakulĂ€re Wende W.s. Die zunĂ€chst von ihm geplante „gewaltsame Contrerevolution“ gegen die liberale MĂ€rzbewegung mit Hilfe eines bewaffneten „antirepublikanischen, conservativen Erhaltungs-Vereins“ fand keine AnhĂ€nger. EnttĂ€uscht vom Monarchen (Wilhelm I.) und isoliert von seinen Standesgenossen, setzte er seine Hoffnung auf die nationale Ebene, die Freiheit der kath. Kirche und die Zusammenarbeit mit den Demokraten. Der hochadelige Grundherr agierte 1848/49 als Vertreter des oberschwĂ€b. Wahlbezirks Biberach-Leutkirch im Vorparlament und in der Frankfurter Nationalversammlung, wo er fraktionslos konsequent mit den Linken stimmte: fĂŒr die Abschaffung des Adels, fĂŒr einen republikanischen PrĂ€sidenten und gegen einen regierenden dt. FĂŒrsten als Staatsoberhaupt sowie bei den Debatten um die Kirchenfrage zusammen mit der Ă€ußersten Linken fĂŒr eine vollstĂ€ndige UnabhĂ€ngigkeit der Religionsgemeinschaften von der Staatsgewalt. 1849 gehörte W. dem Stuttgarter „Rumpfparlament“, 1849/50 der verfassungsrevidierenden (ersten) und der verfassungsberatenden (dritten) Landesversammlung des Kgr. WĂŒrttemberg an. 1850/51 wurde er wegen „Beleidigung der Staatsgewalt“ auf der Festung Hohenasperg inhaftiert. Letztlich blieb W. seinen bereits um 1830 gewonnenen Überzeugungen treu, wonach sich die seit 1803/06 gegen den Adel gerichtete Politik der Monarchen und ihrer BĂŒrokratien nur durch ein BĂŒndnis des Adels mit dem „Volk“ gegen „die Folgen des Liberalismus“ „curieren“ lasse (unveröff. Tagebuch 1832, FĂŒrstl. W.-Z.’sches Gesamtarchiv Schloß Zeil). Aristokratie, Katholizismus, eine großdt., föderalistische Lösung der nationalen Frage mit Einschluß Gesamt-Österreichs unter habsburg. Herrschaft und die Verwurzelung in der Region Oberschwaben blieben fĂŒr ihn Basis und Bezugspunkte.
weiter 3 ( darin Auszeichnungen, Literatur, Photos / Abbildungen


Eine Entdeckung:
“Aus dem Großen Hauptquartier.
Kurt Riezlers Briefe an KĂ€the Liebermann 1924-1915”.
Hrsg. von Guenther Roth und John C. G. Röhl. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2016
AusfĂŒhrliche Besprechung siehe
Weiterlesen2

Anregend und wundersam:
”Entkommen oder Not macht erfinderisch. Auswege in Wort und Bild”.
Von Frank Böckelmann und Dietrich Leube
Die andere Bibliothek, Berlin 2017
Ein „anderes Buch“? Ein anregendes Buch? Ein zur LektĂŒre empfehlenswertes? Auf jeden Fall ein unkonventionelles Buch – selbst fĂŒr „Die Andere Bibliothek“, deren Buchveröffentlichungen als „abseits des Mainstreams“ sich bewegend (Wikipedia) gelten, oder als die „Schönste Buchreihe der Welt“ (DIE ZEIT), und fĂŒr die nach eigenem Bekunden „nur OriginalitĂ€t und QualitĂ€t 
 zĂ€hlen“ Die Buchreihe hat, diesem Anspruch entsprechend, seit ihrem Bestehen 1985 wunderbar gestaltete BĂ€nde von so bekannten Autoren wie Ernst Moritz Arndt, Charles Darwin, Denis Diderot, Edward Gibbon, Alexander von Humboldt, W. G. Sebald, Iliia Trojanow, Karl August Varnhagen zu Ense herausgegeben.
Und dann als 385. Band ein Buch von dem Medien- und Kulturwissenschaftler Frank Böckelmann und dem Publizisten, Übersetzer, Rundfunk- und TV-Autor Dietrich Leube, ein Werk ĂŒber „
 Auswege in Wort und Bild“, ĂŒber Katastrophen, Kriege, Verfolgung, Gefangenschaft, LebenskĂŒnstler, TrĂ€ume, Bedrohungen u. v. a. m.: Alle, alles „auf erstaunliche Weise“ zum Guten „gewendet“, alles „Erscheinungsformen der unabsehbaren höheren Gewalt“ (Einleitung S. 9). Da, auf der ersten Textseite schon, beginnt der Rezensent sich seiner Augen zu vergewissern ...
AusfĂŒhrliche Buchbesprechung: Weiterlesen1

Sehr lesenswert: spannend fundiert umfassend - und: Musik und Kunst und Tanz ist dabei
Ludwig XIV. Das Leben des Sonnenkönigs.
von
Mark Hengerer
C. H. Beck Wissen 2842: MĂŒnchen 2015
mit 12 Abbildungen, 1 Karte, 1 Stammtafel; 128 Seiten

Das Leben des als “Sonnenkönig” bekannt gewordenen Ludwigs XIV. von seiner Geburt 1638 ĂŒber die Auseinandersetzungen mit dem Kaiser , dem Parlament Frankreichs, dem Adel bis zum Krieg mit dem spanischen Weltreich. Der Verfasser beschreibt die “Selbstregierung” des Königs, die französische Kriegsmaschine, den Hof von Versailles, die Frauen des Königs; das abschließende Kapitel widmet sich dem “alternden Monarchen (1680-1715)”.
Im Anhang:: Zeittafel, Literaturhinweise, Bildnachweis und Personenregister.

Mark Hengerer Professor fĂŒr Geschichte der FrĂŒhen Neuzeit an der Ludwig-Maximilian-UniversitĂ€t MĂŒnchen. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Kultur- und Sozialgeschichte der FrĂŒhen Neuzeit, darunter die ausgezeichnete Biographie “Kaiser Ferdinand III. (2012).  

Zur LektĂŒre wĂ€rmstens empfohlen. Denn wer liest heutzutage noch (außer Fachhistorikern und Biographie-Liebhabern) etwa die 344 Seiten von “Ludwig der Vierzehnte. Von Ludwig Bertrand” (Dtsch. Dresden 1927) oder 495 Seiten von “Der Hof Ludwigs XIV. Nach den DenkwĂŒrdigkeiten des Herzogs von Saint-Simon (hrsg. v. Wilhelm Weigand), Leipzig 1922.
 

zu Mark Hengerer: www.fnz.geschichte.uni-muenchen.de

 

Horst BrandstÀtter: Asperg - Ein deutsches GefÀngnis.
Herausgegeben vom Haus der Geschichte Baden-WĂŒrttemberg. Broschur. 216 Seiten. 14,90 Euro

Hrsg. vom Haus der Geschichte Baden-WĂŒrttemberg:

Der schwĂ€bische Demokratenbuckel und seine Insassen: Pfarrer, Schreiber, Kaufleute, Lehrer, gemeines Volk und andere republikanische Brut. Mit Abschweifungen ĂŒber Denunzianten und Sympathisanten in alter und neuer Zeit.
Zusammengestellt von Horst BrandstĂ€tter mit einer EinfĂŒhrung von JĂŒrgen Walter und einem Beitrag von Franziska Dunkel.
Erweiterter Nachdruck der Ausgabe von 1978 im Verlag Klaus Wagenbach, Berlin (Wagenbachs TaschenbĂŒcherei 45).
1. Auflage, Ubstadt-Weiher 2015, verlag regionalkultur.
215 Seiten.

AusfĂŒhrliche Besprechung (Walter-Siegfried Kircher), s. a. Der BĂŒrger im Staat, H. 1-2016, S.- 82-85
http://www.buergerimstaat.de/1_16/inklusion.pdf
 

Buchbesprechungen Theodor HEUSS:

Heuss-Briefedition der BundesprÀsident-Theodor-Heuss-Haus-Stiftung

“Theodor Heuss. Der BundesprĂ€sident. Briefe 1949-1954”
Hrsg. und bearbeitet von Ernst Wolfgang Becker, Martin Vogt und Wolfram Werner.

De Gruyter Verlag Berlin/Boston 2012. 684 Seiten, Ill.; Theodor Heuss, Stuttgarter Ausgabe. Briefe, hrsg. von der Stiftung BundesprÀsident-Theodor-Heuss-Haus. 39,80 Euro.

Besprechung: Walter-Siegfried Kircher:

 Auf sechs BĂ€nde ist die auf acht BĂ€nde konzipierte Reihe der Briefe von Theodor Heuss mit dieser Edition gewachsen. Darin enthalten sind von Heuss selbst verfasste oder diktierte Dokumente aus seiner erster Amtsperiode, gesandt an „Personen der Zeitgeschichte und Vertreter wichtiger Institutionen“. Auswahlkriterium war, wie die Herausgeber formulieren, „die biographische und zeitliche Relevanz der Schreiben“. Sie sollen sein AmtsverstĂ€ndnis und seine AmtsfĂŒhrung deutlich machen. Dass sie sich mit den „großen politischen Fragen“ der ersten Amtsperiode befassen, wundert nicht. DarĂŒber hinaus soll die Auswahl „die Spannweite des Kommunikationsnetzes“ von Heuss zeigen. Wichtig ist den Herausgebern ferner, auch die „LebensumstĂ€nde von Theodor Heuss“, „seine Persönlichkeit, seinen Alltag, sein privates Umfeld“ sichtbar werden zu lassen (S. 65), deshalb sind Schreiben an die Familie, Verwandte und Freunde mit aufgenommen. Weiterlesen

Die Herausgeber wĂ€hlten 245 von den etwa 20 000 Heuss-Briefen aus. Eine weitaus grĂ¶ĂŸere Zahl ging im BundesprĂ€sidialamt ein, von September bis Oktober 1949 knapp 5000 Briefe, 1950 ca. 70 000, 1953 ca. 80 000. Zehn bis 15 Prozent davon wurden an Heuss weitergeleitet, im Schnitt verfasste er zehn bis zwölf Schreiben pro Tag, wie die Herausgeber ermittelten. Verschiedene Wege, sich ĂŒber die Briefe dem Amt und der Person des BundesprĂ€sidenten zu nĂ€hern, bieten die wie gewohnt wissenschaftlich fundierte EinfĂŒhrung der Herausgeber, das ĂŒbersichtliche chronologische Verzeichnis der Briefe, das ausfĂŒhrliche biographische Personen- sowie das thematisch gegliederte Sachregister.

In den ersten Wochen des Jahres 1951 z. B. – Heuss war damals etwa 14 Monate im Amt – erhalten Post aus dem BundesprĂ€sidialamt: Der Maler Oskar Kokoschka, Albert Einstein, Veit Harlan, Regisseur der NS-Propagandafilme „Jud SĂŒĂŸâ€œ und „Kolberg“, ein 1945 bis 1947 inhaftierter ehemaliger General der Luftwaffe, John McCloy, Hoher Kommissar der USA in der Bundesrepublik Deutschland, Willi Daume, PrĂ€sident des Deutschen Sportbundes, Rudolf Alexander Schröder, Schriftsteller und Dichter, der ehemalige Reichskanzler Heinrich BrĂŒning, Elly Heuss-Knapp, Elisabeth Noelle-Neumann. Es geht u. a. um eine Befragung â€žĂŒber Persönlichkeit und Wirkung des BundesprĂ€sidenten“, seine verfassungsrechtliche Stellung, ein Geburtstagsgedicht, den Text einer neuen Nationalhymne, um eine „Bitte um UnterstĂŒtzung gegen öffentliche Boykottaufrufe“, um FlĂŒchtlinge und Heimatvertriebene, die Begnadigung von zum Tode verurteilten Kriegsverbrechern, die erneute Mitgliedschaft eines aus Deutschland emigrierten Wissenschaftlers im renommierten Orden „Pour le mĂ©rite“, um die Übernahme der Schirmherrschaft ĂŒber den deutschen Sport.

Die politischen Grundpositionen des BundesprĂ€sidenten sind bekannt: Er befĂŒrwortete die Politik der Westintegration, die Wiederbewaffnung bzw. Wehrpflicht – gegen eine Volksbefragung dazu hatte er „grundsĂ€tzliche Bedenken“ – , wie er ĂŒberhaupt in einer parlamentarischen Demokratie „die Konkurrenz der plebiszitĂ€ren“ fĂŒr „unrichtig“ hielt (an Martin Niemöller, 23. Mai 1951). Die deutsche Teilung bezeichnete er als „eine schwer ertrĂ€gliche, seelische Last“, die Wiedervereinigung Deutschlands „in nicht zu ferner Zeit“ hielt er fĂŒr möglich.

„Das verbrecherische Regime des Nationalsozialismus“ ist eines der großen Themen der Korrespondenz, das Sachregister weist unter dem Stichwort „Nationalsozialismus“ zahlreiche Hinweise aus von „AuswĂ€rtiges Amt“ bis „Widerstand“. Die Aussöhnung zwischen Christen und Juden, zwischen der Bundesrepublik und Israel lag ihm besonders am Herzen. Vier der ausgewĂ€hlten Briefe befassen sich allein mit seiner in Wiesbaden 1949 bei einer Feierstunde der Gesellschaft fĂŒr christlich-jĂŒdische Zusammenarbeit gehaltenen Rede „Mut zur Liebe“. In ihnen setzt er sich mit Kritik und Zustimmung an seinem Bekenntnis zur „Kollektivscham“ auseinander. Die deutsche Bevölkerung pauschal fĂŒr die NS-Verbrechen zu verurteilen („Kollektivschuld“), lehnte Heuss bekanntlich ab: „... ist es nicht so, daß die Scham ein Weg zur SĂŒhne ist ...?“, schrieb er einer Kritikerin. Seine Rede zur Einweihung des Mahnmals im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen am 30. November 1952 fand viel Anerkennung, Kritiker warfen ihm jedoch vor, darin die Kollektivschuld-Anklage zu erneuern. Er ließ darauf antworten: „... daß Juden vernichtet und Kranke gemordet wurden, das haben schließlich nur die Leute nicht gewußt, die sich in diesen bösen Jahren eine Idylle glauben gestatten zu können.“ Heuss wandte sich, worauf die Herausgeber in ihrer EinfĂŒhrung hinweisen, frĂŒh gegen Tendenzen in der Bundesrepublik, die nationalsozialistischen Verbrechen zu verdrĂ€ngen, einen „Schlussstrich“ zu ziehen (S. 40), den Holocaust gegen die Opfer des Bombenkriegs, der Vertreibung, der Verbrechen der Siegertruppen aufzurechnen (S. 42).

Es bedarf jedoch einer ErklĂ€rung, dass Heuss sich fĂŒr NS-Belastete, fĂŒr verurteilte Kriegsverbrecher und hohe ReprĂ€sentanten des NS-Staates verwandte. Den Hohen Kommissar Frankreichs in Deutschland, François-Poncet, bat er, die Haftbedingungen fĂŒr „die in Spandau sitzenden Leute“ verbessern zu lassen, besonders fĂŒr Konstantin Freiherrn von Neurath, der als Hauptkriegsverbrecher in NĂŒrnberg zu 15 Jahren GefĂ€ngnis verurteilt worden war. John McCloy gegenĂŒber gab er seiner „BetrĂŒbnis Ausdruck ..., dass Herr von WeizsĂ€cker immer noch inhaftiert ist, ... nach meiner inneren Überzeugung hier ein Fehlurteil vorliegt“. Der ehemalige StaatssekretĂ€r im AuswĂ€rtigen Amt wurde wenige Wochen spĂ€ter begnadigt. Auch fĂŒr Alfried Krupp, zu zwölf Jahren Haft und Vermögensentzug verurteilt, hielt Heuss eine Begnadigung angebracht. Die Herausgeber erklĂ€ren mit Hinweisen auf neuere Forschungen, diese „Vergangenheitspolitik“ sei „symptomatisch fĂŒr die frĂŒhe Bundesrepublik“ gewesen und von Politik und Bevölkerung breit unterstĂŒtzt worden. Besonders dann hĂ€tten die Verurteilten mit „Nachsicht und UnterstĂŒtzung ... bis in die Staatsspitze rechnen“ können, „wenn sie (bildungs-)bĂŒrgerlicher Herkunft waren und es ihnen gelang, ihre Taten als Ausdruck eines politischen Irrtums erscheinen zu lassen ...“ (S. 46). Hier spiegeln die Briefe die Neigung von Heuss wider, den Nationalsozialismus zu personalisieren, „den er vor allem auf eine kleine Elite von TĂ€tern und VerfĂŒhrern beschrĂ€nkte“. Die Mehrheit der Deutschen sah er als „VerfĂŒhrte“ (S. 42).

Eingliederung möglichst vieler Personen und Gruppierungen in die demokratische Entwicklung der jungen Republik war ein wichtiges Ziel der AmtsfĂŒhrung des BundesprĂ€sidenten Heuss. Traditionen sollten wieder belebt oder weitergefĂŒhrt werden. Zu der damit zusammenhĂ€ngenden „Symbolpolitik“ des BundesprĂ€sidenten gehörten u. a. die Ehrung erfolgreicher Sportlerinnen und Sportler mit dem Silbernen Lorbeerblatt, die EinfĂŒhrung des Bundesverdienstordens, die Erneuerung des Ordens „Pour le mĂ©rite“ (Friedensklasse), die WeiterfĂŒhrung des Volkstrauertags und auch der letztlich gescheiterte Versuch, eine neue Nationalhymne einzufĂŒhren – etwa zwölf Schreiben befassen sich mit diesem Thema. Den Widerstand der Verschwörer des 20. Juli und der Mitglieder der „Weißen Rose“, damals noch höchst umstritten, gedachte Heuss als „Erzieher zur Demokratie“ im Sinne einer „positiven Gedenktradition“ zu thematisieren.

Nicht in allen FĂ€llen war Heuss gewillt, an Traditionen festzuhalten oder neue zu begrĂŒnden. So weigerte er sich, Bayreuth und die Richard-Wagner-Festspiele zu besuchen, „den Spuren des Herrn Hitler auf den FesthĂŒgel und nach Wahnfried“ wollte er nicht folgen. Die Idee, ihm die Schirmherrschaft fĂŒr das Hambacher Fest zu ĂŒbertragen, das als lokales Volksfest geplant war, lehnte er ebenfalls ab. Er sah die Gefahr „daß das bedeutende geschichtliche Pathos des Jahres 1832 nach einiger Zeit aufgebraucht sein wĂŒrde“.

Was erzĂ€hlen die Briefe an weniger Bekanntem? Nur wenige Beispiele von vielen: Heuss rĂ€t Kurt Schumacher „sehr intensiv“, eine wissenschaftliche Biographie ĂŒber August Bebel zu verfassen. Den spĂ€teren Verteidigungsminister Blank machte er auf „L’armĂ©e nouvelle“, das Buch des 1914 ermordeten französischen SozialistenfĂŒhrers Jean JaurĂšs - fĂŒr Heuss „ein großer Mann“ – aufmerksam. Ablehnend beschied er die Presseanfrage, eine Bildreportage „Ein Tag beim BundesprĂ€sidenten“ zu machen. Keine Heuss-Edition ohne Humorvolles: Mit einem eigenen Gedicht reagierte er, als auf sein „Dicker-Werden“ angespielt wurde: „... stellt ein Durchschnittsschicksal dar, / bei dem der BundesprĂ€sident / sich nicht von seinem Volke trennt.“ Und was es mit dem bekannten Schlager „der Theodor, der Theodor, der steht bei uns im Fußball“ bzw. „im Bundestor“ genau auf sich hat, erfĂ€hrt man ausfĂŒhrlich in einem Schreiben an den Direktor der Stuttgarter Staatsgalerie.

FĂŒr Heuss war seine Korrespondenz, wie die Herausgeber betonen, neben Reden und Publizistik „eines seiner zentralen Kommunikationsmittel“, ein „Mittel der AmtsfĂŒhrung“. In einem Brief an einen Freund Ă€ußerte er sich 1953 selbst zum Thema „Funktion des BundesprĂ€sidenten“ und seiner AmtsfĂŒhrung. In den ersten ein, zwei Jahren habe er diese „programmatisch unter das Stichwort ,Entkrampfung’ der Deutschen gestellt“; bei „dem Staat gegenĂŒber sonst ziemlich fremdem Gruppen von Wissenschaftlern und KĂŒnstlern“ habe er „eine Wirkung erzielt (man nennt das heute Integration), die vor mir ein anderer Mann in verwandter Lage nicht erreicht habe“. Den Inhalt des Schreibens bezeichnete er als „ein Vademecum fĂŒr BundesprĂ€sidenten in der Mitte des 20. Jahrhunderts“.

 

Theodor Heuss. Der BundesprÀsident. Briefe 1949-1954.
De Gruyter Verlag Berlin/New York 2012. 684 Seiten, Ill.; Theodor Heuss, Stuttgarter Ausgabe. Briefe, hrsg. von der Stiftung BundesprÀsident-Theodor-Heuss-Haus.
39,80 Euro

Hrsg. und bearbeitet von Ernst Wolfgang Becker, Martin Vogt und Wolfram Werner

Auf sechs BĂ€nde ist die auf acht BĂ€nde konzipierte Reihe der Briefe von Theodor Heuss mit dieser Edition gewachsen. Darin enthalten sind von Heuss selbst verfasste oder diktierte Dokumente aus seiner erster Amtsperiode, gesandt an „Personen der Zeitgeschichte und Vertreter wichtiger Institutionen“. Auswahlkriterium war, wie die Herausgeber formulieren, „die biographische und zeitliche Relevanz der Schreiben“. Sie sollen sein AmtsverstĂ€ndnis und seine AmtsfĂŒhrung deutlich machen. Dass sie sich mit den „großen politischen Fragen“ der ersten Amtsperiode befassen, wundert nicht. DarĂŒber hinaus soll die Auswahl „die Spannweite des Kommunikationsnetzes“ von Heuss zeigen. Wichtig ist den Herausgebern ferner, auch die „LebensumstĂ€nde von Theodor Heuss“, „seine Persönlichkeit, seinen Alltag, sein privates Umfeld“ sichtbar werden zu lassen (S. 65), deshalb sind Schreiben an die Familie, Verwandte und Freunde mit aufgenommen.

Die Herausgeber wĂ€hlten 245 von den etwa 20 000 Heuss-Briefen aus. Eine weitaus grĂ¶ĂŸere Zahl ging im BundesprĂ€sidialamt ein, von September bis Oktober 1949 knapp 5000 Briefe, 1950 ca. 70 000, 1953 ca. 80 000. Zehn bis 15 Prozent davon wurden an Heuss weitergeleitet, im Schnitt verfasste er zehn bis zwölf Schreiben pro Tag, wie die Herausgeber ermittelten. Verschiedene Wege, sich ĂŒber die Briefe dem Amt und der Person des BundesprĂ€sidenten zu nĂ€hern, bieten die wie gewohnt wissenschaftlich fundierte EinfĂŒhrung der Herausgeber, das ĂŒbersichtliche chronologische Verzeichnis der Briefe, das ausfĂŒhrliche biographische Personen- sowie das thematisch gegliederte Sachregister.

In den ersten Wochen des Jahres 1951 z. B. – Heuss war damals etwa 14 Monate im Amt – erhalten Post aus dem BundesprĂ€sidialamt: Der Maler Oskar Kokoschka, Albert Einstein, Veit Harlan, Regisseur der NS-Propagandafilme „Jud SĂŒĂŸâ€œ und „Kolberg“, ein 1945 bis 1947 inhaftierter ehemaliger General der Luftwaffe, John McCloy, Hoher Kommissar der USA in der Bundesrepublik Deutschland, Willi Daume, PrĂ€sident des Deutschen Sportbundes, Rudolf Alexander Schröder, Schriftsteller und Dichter, der ehemalige Reichskanzler Heinrich BrĂŒning, Elly Heuss-Knapp, Elisabeth Noelle-Neumann. Es geht u. a. um eine Befragung â€žĂŒber Persönlichkeit und Wirkung des BundesprĂ€sidenten“, seine verfassungsrechtliche Stellung, ein Geburtstagsgedicht, den Text einer neuen Nationalhymne, um eine „Bitte um UnterstĂŒtzung gegen öffentliche Boykottaufrufe“, um FlĂŒchtlinge und Heimatvertriebene, die Begnadigung von zum Tode verurteilten Kriegsverbrechern, die erneute Mitgliedschaft eines aus Deutschland emigrierten Wissenschaftlers im renommierten Orden „Pour le mĂ©rite“, um die Übernahme der Schirmherrschaft ĂŒber den deutschen Sport.

Die politischen Grundpositionen des BundesprĂ€sidenten sind bekannt: Er befĂŒrwortete die Politik der Westintegration, die Wiederbewaffnung bzw. Wehrpflicht – gegen eine Volksbefragung dazu hatte er „grundsĂ€tzliche Bedenken“ – , wie er ĂŒberhaupt in einer parlamentarischen Demokratie „die Konkurrenz der plebiszitĂ€ren“ fĂŒr „unrichtig“ hielt (an Martin Niemöller, 23. Mai 1951). Die deutsche Teilung bezeichnete er als „eine schwer ertrĂ€gliche, seelische Last“, die Wiedervereinigung Deutschlands „in nicht zu ferner Zeit“ hielt er fĂŒr möglich.

„Das verbrecherische Regime des Nationalsozialismus“ ist eines der großen Themen der Korrespondenz, das Sachregister weist unter dem Stichwort „Nationalsozialismus“ zahlreiche Hinweise aus von „AuswĂ€rtiges Amt“ bis „Widerstand“. Die Aussöhnung zwischen Christen und Juden, zwischen der Bundesrepublik und Israel lag ihm besonders am Herzen. Vier der ausgewĂ€hlten Briefe befassen sich allein mit seiner in Wiesbaden 1949 bei einer Feierstunde der Gesellschaft fĂŒr christlich-jĂŒdische Zusammenarbeit gehaltenen Rede „Mut zur Liebe“. In ihnen setzt er sich mit Kritik und Zustimmung an seinem Bekenntnis zur „Kollektivscham“ auseinander. Die deutsche Bevölkerung pauschal fĂŒr die NS-Verbrechen zu verurteilen („Kollektivschuld“), lehnte Heuss bekanntlich ab: „... ist es nicht so, daß die Scham ein Weg zur SĂŒhne ist ...?“, schrieb er einer Kritikerin. Seine Rede zur Einweihung des Mahnmals im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen am 30. November 1952 fand viel Anerkennung, Kritiker warfen ihm jedoch vor, darin die Kollektivschuld-Anklage zu erneuern. Er ließ darauf antworten: „... daß Juden vernichtet und Kranke gemordet wurden, das haben schließlich nur die Leute nicht gewußt, die sich in diesen bösen Jahren eine Idylle glauben gestatten zu können.“ Heuss wandte sich, worauf die Herausgeber in ihrer EinfĂŒhrung hinweisen, frĂŒh gegen Tendenzen in der Bundesrepublik, die nationalsozialistischen Verbrechen zu verdrĂ€ngen, einen „Schlussstrich“ zu ziehen (S. 40), den Holocaust gegen die Opfer des Bombenkriegs, der Vertreibung, der Verbrechen der Siegertruppen aufzurechnen (S. 42).

Es bedarf jedoch einer ErklĂ€rung, dass Heuss sich fĂŒr NS-Belastete, fĂŒr verurteilte Kriegsverbrecher und hohe ReprĂ€sentanten des NS-Staates verwandte. Den Hohen Kommissar Frankreichs in Deutschland, François-Poncet, bat er, die Haftbedingungen fĂŒr „die in Spandau sitzenden Leute“ verbessern zu lassen, besonders fĂŒr Konstantin Freiherrn von Neurath, der als Hauptkriegsverbrecher in NĂŒrnberg zu 15 Jahren GefĂ€ngnis verurteilt worden war. John McCloy gegenĂŒber gab er seiner „BetrĂŒbnis Ausdruck ..., dass Herr von WeizsĂ€cker immer noch inhaftiert ist, ... nach meiner inneren Überzeugung hier ein Fehlurteil vorliegt“. Der ehemalige StaatssekretĂ€r im AuswĂ€rtigen Amt wurde wenige Wochen spĂ€ter begnadigt. Auch fĂŒr Alfried Krupp, zu zwölf Jahren Haft und Vermögensentzug verurteilt, hielt Heuss eine Begnadigung angebracht. Die Herausgeber erklĂ€ren mit Hinweisen auf neuere Forschungen, diese „Vergangenheitspolitik“ sei „symptomatisch fĂŒr die frĂŒhe Bundesrepublik“ gewesen und von Politik und Bevölkerung breit unterstĂŒtzt worden. Besonders dann hĂ€tten die Verurteilten mit „Nachsicht und UnterstĂŒtzung ... bis in die Staatsspitze rechnen“ können, „wenn sie (bildungs-)bĂŒrgerlicher Herkunft waren und es ihnen gelang, ihre Taten als Ausdruck eines politischen Irrtums erscheinen zu lassen ...“ (S. 46). Hier spiegeln die Briefe die Neigung von Heuss wider, den Nationalsozialismus zu personalisieren, „den er vor allem auf eine kleine Elite von TĂ€tern und VerfĂŒhrern beschrĂ€nkte“. Die Mehrheit der Deutschen sah er als „VerfĂŒhrte“ (S. 42).

Eingliederung möglichst vieler Personen und Gruppierungen in die demokratische Entwicklung der jungen Republik war ein wichtiges Ziel der AmtsfĂŒhrung des BundesprĂ€sidenten Heuss. Traditionen sollten wieder belebt oder weitergefĂŒhrt werden. Zu der damit zusammenhĂ€ngenden „Symbolpolitik“ des BundesprĂ€sidenten gehörten u. a. die Ehrung erfolgreicher Sportlerinnen und Sportler mit dem Silbernen Lorbeerblatt, die EinfĂŒhrung des Bundesverdienstordens, die Erneuerung des Ordens „Pour le mĂ©rite“ (Friedensklasse), die WeiterfĂŒhrung des Volkstrauertags und auch der letztlich gescheiterte Versuch, eine neue Nationalhymne einzufĂŒhren – etwa zwölf Schreiben befassen sich mit diesem Thema. Den Widerstand der Verschwörer des 20. Juli und der Mitglieder der „Weißen Rose“, damals noch höchst umstritten, gedachte Heuss als „Erzieher zur Demokratie“ im Sinne einer „positiven Gedenktradition“ zu thematisieren.

Nicht in allen FĂ€llen war Heuss gewillt, an Traditionen festzuhalten oder neue zu begrĂŒnden. So weigerte er sich, Bayreuth und die Richard-Wagner-Festspiele zu besuchen, „den Spuren des Herrn Hitler auf den FesthĂŒgel und nach Wahnfried“ wollte er nicht folgen. Die Idee, ihm die Schirmherrschaft fĂŒr das Hambacher Fest zu ĂŒbertragen, das als lokales Volksfest geplant war, lehnte er ebenfalls ab. Er sah die Gefahr „daß das bedeutende geschichtliche Pathos des Jahres 1832 nach einiger Zeit aufgebraucht sein wĂŒrde“.

Was erzĂ€hlen die Briefe an weniger Bekanntem? Nur wenige Beispiele von vielen: Heuss rĂ€t Kurt Schumacher „sehr intensiv“, eine wissenschaftliche Biographie ĂŒber August Bebel zu verfassen. Den spĂ€teren Verteidigungsminister Blank machte er auf „L’armĂ©e nouvelle“, das Buch des 1914 ermordeten französischen SozialistenfĂŒhrers Jean JaurĂšs - fĂŒr Heuss „ein großer Mann“ – aufmerksam. Ablehnend beschied er die Presseanfrage, eine Bildreportage „Ein Tag beim BundesprĂ€sidenten“ zu machen. Keine Heuss-Edition ohne Humorvolles: Mit einem eigenen Gedicht reagierte er, als auf sein „Dicker-Werden“ angespielt wurde: „... stellt ein Durchschnittsschicksal dar, / bei dem der BundesprĂ€sident / sich nicht von seinem Volke trennt.“ Und was es mit dem bekannten Schlager „der Theodor, der Theodor, der steht bei uns im Fußball“ bzw. „im Bundestor“ genau auf sich hat, erfĂ€hrt man ausfĂŒhrlich in einem Schreiben an den Direktor der Stuttgarter Staatsgalerie.

FĂŒr Heuss war seine Korrespondenz, wie die Herausgeber betonen, neben Reden und Publizistik „eines seiner zentralen Kommunikationsmittel“, ein „Mittel der AmtsfĂŒhrung“. In einem Brief an einen Freund Ă€ußerte er sich 1953 selbst zum Thema „Funktion des BundesprĂ€sidenten“ und seiner AmtsfĂŒhrung. In den ersten ein, zwei Jahren habe er diese „programmatisch unter das Stichwort ,Entkrampfung’ der Deutschen gestellt“; bei „dem Staat gegenĂŒber sonst ziemlich fremdem Gruppen von Wissenschaftlern und KĂŒnstlern“ habe er „eine Wirkung erzielt (man nennt das heute Integration), die vor mir ein anderer Mann in verwandter Lage nicht erreicht habe“. Den Inhalt des Schreibens bezeichnete er als „ein Vademecum fĂŒr BundesprĂ€sidenten in der Mitte des 20. Jahrhunderts“.

Walter-Siegfried Kircher


Theodor Heuss. Hochverehrter Herr BundesprÀsident!
Der Briefwechsel mit der Bevölkerung 1949-1959.
De Gruyter Verlag Berlin/New York 2010. 588 Seiten, Ill.; Theodor Heuss, Stuttgarter Ausgabe. Briefe, hrsg. von der Stiftung BundesprÀsident-Theodor-Heuss-Haus. 39,80 Euro.

Der Briefwechsel des BundesprĂ€sidenten Theodor Heuss mit der Bevölkerung nimmt in der „Stuttgarter Ausgabe“ der Reihe der Briefe von Theodor Heuss eine besondere Stellung ein, wie die Herausgeber betonen. Es ist der erste Band mit Briefen aus seiner Amtszeit 1949-1959. Und im Unterschied zu den bislang erschienenen vier BĂ€nden aus den Jahren 1892 bis 1949 enthĂ€lt dieser Band nicht nur die Antworten des BundesprĂ€sidenten, sondern auch die jeweiligen Zuschriften aus der Bevölkerung. Diese formulierten ganz persönliche Anliegen, nahmen Stellung zur allgemeinen Politik und lobten oder kritisierten seine AmtsfĂŒhrung.

In seiner EinfĂŒhrung kommentiert der Herausgeber dieses Bandes, Wolfram Werner, die weit gefĂ€cherten Themen der Briefe, die den BundesprĂ€sidenten tĂ€glich erreichten. Seine gesamte Briefproduktion wĂ€hrend der  Amtszeit 1949 – 1959 wird auf 50 000 geschĂ€tzt. Wenn er nicht auf Reisen war, beantwortete er durchschnittlich circa 8 bis 14 Schreiben pro Tag. Da war es eine anspruchsvolle Aufgabe, die Briefauswahl so zu gewichten, dass möglichst viele und unterschiedliche Anliegen der Bevölkerung wie auch Heuss’ jeweilige Reaktion sich im Band widerspiegeln. FĂŒr die vorliegende Edition wurden 204 Zuschriften und die jeweiligen Antworten des BundesprĂ€sidenten ausgewĂ€hlt, die er fast alle persönlich diktierte.

Viele Briefschreiber reagierten auf den Inhalt seiner Reden und Ansprachen bei offiziellen AnlĂ€ssen, auf seine VortrĂ€ge, die auch in den Medien verbreitet wurden. Manche wandten sich mit ihren Anliegen an ihn, weil sie annahmen, er sei dafĂŒr zustĂ€ndig, könne sich dieser annehmen, sie gar entscheiden bzw. die EntscheidungstrĂ€ger beeinflussen. Ratsuchende, Ratgebende, Bittsteller griffen zur Feder. Es finden sich VorschlĂ€ge fĂŒr seine Kleidung, Tipps fĂŒr seine Ansprachen, Anregungen fĂŒr seinen Speisezettel. Themen der deutschen Geschichte, der Landes-, Bundes- und Weltpolitik bewegten die Briefschreiber: das Ende des Zweiten Weltkrieges, die Millionen von FlĂŒchtlingen und Vertriebenen, das VerhĂ€ltnis der Bundesrepublik zur DDR, die politischen und wirtschaftlichen Weichenstellungen wie Westintegration, Wiederbewaffnung, WiederaufrĂŒstung und die Auseinandersetzung um den EVG-Vertrag, die mögliche Wiedervereinigung, die Kampagne „Kampf gegen den Atomtod“, der Aufstand vom 17. Juni 1953, Spruchkammerverfahren und Entnazifizierung, das Schicksal der Kriegsgefangenen in der Sowjetunion, der Umgang mit Kriegsverbrechern, Heuss’ Staatsbesuche im Ausland, die Fußballweltmeisterschaft 1954, die Wahlen und WahlkĂ€mpfe von 1953 und 1957, der Heusssche Vorschlag einer neuen Nationalhymne – um nur einige Themen zu nennen. Die Zuschriften sind eine wahre Fundgrube und spiegeln die unterschiedlichsten MentalitĂ€ten der damaligen westdeutschen Bevölkerung wider.

Einige Beispiele fĂŒr persönliche Anliegen: VerstĂ€ndnisvoll antwortete Heuss einer jungen SchĂŒlerin aus Stuttgart, die sich dagegen wandte, bei seinem Besuch in Stuttgart 1949 auf Befehl des  Kultministeriums  und OberbĂŒrgermeisters „Spalier bilden“ zu mĂŒssen. Heuss konnte dies verhindern, es sollte bei jungen Menschen nicht der Eindruck erweckt werden, „so war es unter Hitler auch“. Bei der Bundesfeier der Deutschen Jugend und des Deutschen Sports in Bonn 1949 verlor eine Sparkassenangestellte ein mĂŒhsam finanziertes und vom Vater gebautes Boot; Heuss sorgte dafĂŒr, dass ihr der Betrag von 50 DM angewiesen wurde. Der Abt einer kriegsgeschĂ€digten Abtei ließ dem BundesprĂ€sidenten eine Flasche des in der Abtei produzierten KrĂ€uterlikörs zusenden und hoffte dadurch auf „EinfĂŒhrung unseres Likörs in die höheren und höchsten Kreise“; Heuss ließ humorvoll antworten, er persönlich ziehe schĂ€rfere GenĂŒsse vor, der „Likörkonsum im PrĂ€sidialhaushalt“ sei gering. Freundlich reagierte Heuss auf eine Sendung der 1953 auf den Markt gebrachten Marke Hengstenberg Mildessa (mildes Wein-Sauerkraut) und merkte an, dass sich seine SchwĂ€gerin, die seinen Haushalt fĂŒhre, darĂŒber freuen werde. Ein „geborenes SchwabenmĂ€dle“, das sich um seine ErnĂ€hrung und Gesundheit sorgte, die Atempausen wĂ€hrend seiner Reden auf einen „bedrĂ€ngten ... Brustkorb“ und ein â€žĂŒber GebĂŒhr belastetes Herz“ zurĂŒckfĂŒhrte und ihm Arztbesuche, eine Kur und fĂŒr „zu Hause eine richtige DiĂ€tköchin“ empfahl, erhielt eine sehr persönliche, ausfĂŒhrliche Antwort mit Hinweisen auf seine „zu geringe Bewegung“, seine „Kropfanlage ... in Kombination mit dem zu dicken Bauch“ und beruhigte sie, sein Herz sei in Ordnung.

Zustimmung, aber auch Widerspruch erntete Heuss fĂŒr manche Äußerung, auch fĂŒr ganze Reden, so etwa, als er 1949 das Wiederaufleben alter studentischer Korporationen kritisierte. Seine  Sylvesteransprache 1950, in der Heuss eine kritische Bemerkung ĂŒber die Einstellung vieler Einheimischer zu den FlĂŒchtlingen gemacht hatte, provozierte viele Schreiber zu Hinweisen auf die eigene missliche Lage und den großen Einfluss des BHE, der politischen Organisation der FlĂŒchtlinge. Eine in derselben Ansprache von Heuss verlesene, von dem Dichter R. A. Schröder verfasste neue Nationalhymne stieß auf breite Kritik, fĂŒhrte zu unfreundlichen Kommentaren („... wird Ihre Person der LĂ€cherlichkeit preisgeben“), jedoch auch zu einer FĂŒlle von GegenvorschlĂ€gen, die Heuss je nach Inhalt und Ton der Zuschriften mal knapp und scharf zurĂŒckweisen ließ, mal betont sachlich und ausfĂŒhrlich selbst beantwortete. Seine vielzitierte Rede „Mut zur Liebe“ bei einer Feierstunde der Gesellschaft fĂŒr christlich-jĂŒdische Zusammenarbeit in Wiesbaden 1949, bei der er sich zur „Kollektivscham“ der Deutschen bekannte, ebenso wie seine 1952 fĂŒr die Opfer des Konzentrationslagers Bergen-Belsen gehaltene Rede zur Einweihung eines Mahnmals stießen auf geteilte Aufnahme. Den Vorwurf, er habe die These von der Kollektivschuld unterstĂŒtzt, erklĂ€rte er fĂŒr „abwegig“, den Versuch, ihn zu „belehren, daß es eine Kollektivscham nicht geben könne“, wies er zurĂŒck. Auch die Debatten um die Neutralisierung Deutschlands, um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, Wehrdienstverweigerung und Wehrpflicht – Heuss’ Ă€ußerte öfters, diese sei „historisch“ gesehen „das legitime Kind der Demokratie“ – finden im Briefwechsel mit der Bevölkerung ihren Widerhall.

Bei diesen Themen konnte Heuss ebenso wie bei Zuschriften, die den Nationalsozialismus und den Umgang mit ihm nach 1945 betrafen, auch sehr ungehalten reagieren. So antwortet er z. B. am Ende seiner zweiten Bonner Amtsperiode, 1959, einem Pfarrer aus TĂŒbingen, der in seinem Schreiben an den BundesprĂ€sidenten sich fĂŒr ein „wiedervereinigtes Deutschland“ mit dem Status einer garantierten NeutralitĂ€t“ ausgesprochen und den westdeutschen Politikern vorgeworfen hatte, sie seien „Kreaturen des Westens“: „... daß wir, die wir uns Tag und Nacht bemĂŒht haben, dem deutschen Volk aus seiner Zerschlagenheit herauszuhelfen, uns ... nicht ‚Kreaturen des Westens’ nennen lassen. Ich habe mich keinen Augenblick in meinem Leben als die Kreatur eines fremden Willens gefĂŒhlt und teile Ihnen mit landsmannschaftlicher Offenheit mit, daß ich diesen Teil Ihres Briefes fĂŒr eine anmaßende UnverschĂ€mtheit halte.“ Und „zum Kotzen“ fand er „die gewerbstĂŒchtige Verkitschung einer Volkstragödie“ in deutschen Zeitschriften, die die nationalsozialistische Zeit in endlosen Fortsetzungsreihen verherrlichten und eine falsche Romantisierung betrieben“, was „sehr wenig mit wissenschaftlicher Akkuratesse“ zu tun habe.

Wir lernen in diesem Band den ersten BundesprĂ€sidenten kennen, wie er helfend, fĂŒrsorglich, aufmunternd, entgegenkommend, humorvoll, aber auch ablehnend, unwillig, grob, gereizt, belehrend, polemisch, ironisch reagiert, immer stilistisch brillierend und den eingegangenen Zuschriften angemessen.

Wie bei den bisher erschienenen BĂ€nden auch, erleichtert ein detailliertes „Verzeichnis der Briefe“ sowie ein ausfĂŒhrliches Personen- und Sachregister die LektĂŒre. Die große Zeitspanne, welche die Briefe umfassen, die vielfĂ€ltigen Themen, die differenzierten, auf Anliegen und Ton der Zuschriften abgestimmten Antworten des BundesprĂ€sidenten machen den Reiz und Wert des Briefwechsels aus.

Walter-Siegfried Kircher
veröffentlicht in: DER BÜRGER IM STAAT, Heft 4/2011 (“Radikalisierung und Terrorismus im Westen”), S. 270-272
www.buergerimstaat.de/4_11/terrorismus.htm

 

Theodor Heuss.Aufbruch im Kaiserreich. Briefe 1892-1917.
Hrsg. und bearbeitet von Frieder GĂŒnther.
Theodor Heuss, Stuttgarter Ausgabe. hrsg. von der Stiftung BundesprĂ€sident-Theodor-Heuss-Haus. K. G. Saur Verlag MĂŒnchen 2009. 622 Seiten, Ill.;

Theodor Heuss als SchĂŒler und Student, dann Redakteur und Publizist wĂ€hrend der Wilmhelmischen Epoche und im Ersten Weltkrieg. 228 ausgewĂ€hlte Briefe Bereiche Politik Geschichte Literatur Kunst
Seit 2007 gibt die Stiftung BundesprĂ€sident-Theodor-Heuss-Haus in der „Stuttgarter Ausgabe“ Briefe von Theodor Heuss heraus. Die Gesamtausgabe ist auf acht BĂ€nde (von 1892 bis 1963) angelegt, fĂŒnf sind bisher erschienen. Der Band „Theodor Heuss.Aufbruch im Kaiserreich. Briefe 1892-1917“ ermöglicht, wie der Herausgeber, Frieder GĂŒnther, in seiner kenntnisreichen EinfĂŒhrung schreibt, der Frage nachzugehen, „wie Heuss zu dem wurde, als welcher er in spĂ€teren Jahren Bekanntheit erlangte und als welcher er den Menschen im GedĂ€chtnis geblieben ist“, wie sich seine Persönlichkeit entwickelte, ob die uns bekannten Begabungen und FĂ€higkeiten des spĂ€teren BundesprĂ€sidenten sich schon frĂŒh zeigten, ob sich „SchlĂŒsselereignisse“ oder „EntwicklungsbrĂŒche“ feststellen lassen. Anhand seiner Briefe kann gezeigt werden, wie sich seine „Grundhaltungen“ und politischen Ansichten bildeten, welche seiner Bekannten, Freunde, Kollegen, also seine „zentralen WeggefĂ€hrten“, ihn besonders beeindruckten und beeinflussten. Die frĂŒhen, meist unbekannten und erstmals veröffentlichten Briefe geben wichtige AufschlĂŒsse ĂŒber bisher weniger beachtete Jahre und Entwicklungen in Heuss’ Biographie. Briefliche Selbstzeugnisse lassen aber auch erkennen, „welches konkrete Bild er dabei von sich selbst konstruierte und auch welcher narrativer Muster und Topoi er sich zumeist bediente“ (EinfĂŒhrung S. 16).

226 Briefe wurden fĂŒr diesen Band ausgewĂ€hlt, und zwar nach den Schwerpunkten Familie, Freundes- und Bekanntenkreis, journalistische und politische AktivitĂ€ten, Äußerungen zu Fragen von Politik, Kunst, Kultur sowie zum Kriegsgeschehen 1914-1917 – eine vortreffliche Auswahl, denn darunter sind auch solche, die einen allgemein weniger bekannten, unbeschwerten, lebenslustigen, von sich selbst eingenommenen jungen Mann zeigen. Die meisten Briefe sind – ab 1905 - an seine Verlobte und Ehefrau Elly (Heuss-)Knapp, Tochter des in Straßburg lehrenden Nationalökonomen Georg Friedrich Knapp, gerichtet. Sie heirateten 1908 in Straßburg, getraut wurden sie von Albert Schweitzer. ...

Die Briefe aus der Kaiserzeit gewĂ€hren Einblicke in (misslungene und erfolgreiche) Wahlkampagnen, in die liberalen Milieus, in die Mechanismen der Parteipolitik, der Kandidatenauslese, sie ermöglichen auch ĂŒberraschende Blicke auf Personen aus der Literatur-, Kunst- und  Politikszene. Heuss’ eigene politische Karriere auf Landes- und Reichsebene, an der er so sehr arbeitete, wollte aber, trotz seines großen Einsatzes, trotz seines Redetalents und seiner FĂ€higkeit, Menschen anzusprechen, nicht recht gelingen. Noch 1919 meinte Friedrich von Payer, als Heuss einen Listenplatz bei den wĂŒrttembergischen Linksliberalen fĂŒr die Wahl zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung beanspruchte: „Kronprinze mĂŒesset warten könne“.

Mit dem System des Wilhelminismus, mit der Rolle des Kaisers setzt sich Heuss, das fĂ€llt auf, nicht grundsĂ€tzlich auseinander. Staatsnational ist Heuss’ Haltung genannt worden, die bestehende Ordnung radikal in Frage zu stellen, war ihm fremd. Es ging ihm darum, sie weiterzuentwickeln durch die Demokratisierung der Wahlrechtsfrage und die weitere Parlamentarisierung der Reichsverfassung. Bei Kriegsausbruch sieht er, national eingestellt wie die große Mehrheit, das Reich in der Defensive, die MĂ€chte der Entente als Angreifer, hĂ€lt den Krieg fĂŒr legitim, glaubt „an den Sieg der Truppen und an große Erfolge der Flotte“ und befĂŒrwortet 1915 eine Verschiebung der Grenze gegen Osten. Naumanns Buch „Mitteleuropa“ (1915) findet seinen großen Gefallen, er schlĂ€gt vor, eine „SchĂŒtzengraben- und Feldpostausgabe“ herstellen zu lassen, ...
In dem letzten hier edierten Brief aus Heilbronn, geschrieben an seinen Schwiegervater 1917, geht Heuss auf die ihn in Berlin erwartenden  „neuen Möglichkeiten“ ein: „eine kleine LehrtĂ€tigkeit“ in der Sozialen Frauenschule, Mitarbeit in der GeschĂ€ftsstelle des Deutschen Werkbundes, Übernahme der Schriftleitung der Zeitschrift „Deutsche Politik“. Die Verbindung zwischen seinen „Àsthetischen und politischen Interessen“ sah er dabei gewahrt, eine „rein journalistische Festlegung“ kam fĂŒr ihn nicht in Frage. Allerdings hatte er sich schon im August 1914 nicht vorstellen können, „mit welchem politischen Bild die Welt aus dieser Katastrophe hervorgeht.“

Walter-Siegfried Kircher

Theodor Heuss.BĂŒrger der Weimarer Republik. Briefe 1918–1933.
Hrsg. und bearbeitet von Michael Dorrmann.
K. G. Saur Verlag MĂŒnchen 2008. 631 Seiten, Ill.; Theodor Heuss, Stuttgarter Ausgabe, hrsg. von der Stiftung BundesprĂ€sident-Theodor-Heuss-Haus.

FĂŒr den zweiten Band der auf acht BĂ€nde angelegten Reihe „Theodor Heuss. Stuttgarter Ausgabe. Briefe“ wĂ€hlten die Herausgeber als ZĂ€suren nicht November 1918, die Abdankung des Kaisers und die Ausrufung der Republik, nicht die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 31. Januar 1933, sondern einen biographisch-chronologischen Ansatz. Im Januar 1918 zog Heuss von Heilbronn zurĂŒck nach Berlin, er war er in die GeschĂ€ftsfĂŒhrung des Deutschen Werkbundes berufen worden, daneben ĂŒbernahm er die Schriftleitung der Zeitschrift „Deutsche Politik“. Die ersten Briefe aus Berlin – an seinen Schwiegervater Georg Friedrich Knapp, Nationalökonom an der UniversitĂ€t Straßburg, an seine Frau Elly Heuss-Knapp, an den Historiker Friedrich Meinecke –  fĂŒhren hinein in die Kreise liberaler Bildungs- und WirtschaftsbĂŒrger, in die Welt der liberalen Presse. Der 34-jĂ€hrige Heuss nahm teil an den „Mittwochsabenden“ des Historikers und Publizisten Hans DelbrĂŒck (Herausgeber der „Preußischen JahrbĂŒcher“), wurde Mitglied der „Deutschen Gesellschaft 1914“, einer ĂŒberparteilichen Vereinigung politischer Prominenter in Berlin, die fĂŒr einen VerstĂ€ndigungsfrieden und die Parlamentarisierung des Deutschen Reichs eintraten. In den letzten der 229 ausgewĂ€hlten (von circa 1100 aufgespĂŒrten) Schreiben vom Dezember 1932/Januar 1933 machte sich Heuss u.a. Gedanken um den inneren Zustand der Deutschen Staatspartei, um die „Hitlerei“ („... dĂŒrfte bei ihrer gegenwĂ€rtigen Krise sich nicht mehr erholen“), um die bĂŒrgerliche Mitte als kĂŒnftige StĂŒtze des Kabinetts von Schleicher und um die Frage des „politischen Erfolges“ seines Mentors Friedrich Naumann.

FĂŒr die Jahre 1918 bis 1933 bietet dieser Briefband eine wahre Fundgrube, versammelt eine FĂŒlle von Namen, Ereignissen, Informationen, Überlegungen. Heuss war ja auch Studienleiter und Dozent an der „Deutschen Hochschule fĂŒr Politik“ in Berlin (bis 1933), stellvertretender Vorsitzender des Bundes der Auslandsdeutschen (bis 1932), von 1920 bis 1933 Bezirksverordneter von Berlin-Schöneberg, er hatte fĂŒr die DDP in Groß-Berlin ein Mandat als Stadtverordneter von 1929 bis 1933 inne. Er korrespondierte außer mit Familienmitgliedern und Verwandten mit Politikern, Diplomaten, Wissenschaftlern, Kulturschaffenden, Unternehmern und Gewerkschaftlern, Architekten, Geistlichen, Lehrern, RechtsanwĂ€lten. Es geht dabei um das preußische Dreiklassen-Wahlrecht, eigene und fremde Publikationen, um Glasmalerei, Kandidatenlisten, WahlkĂ€mpfe, Wahlergebnisse und Koalitionen, ParteigrĂŒndungen, um Autoren- und Rednerhonorare, um Beurteilung von Zeitungen, Zeitschriften, um BĂŒcher und RadiovortrĂ€ge, um AusflĂŒge, Einladungen und Reiseerlebnisse, um Republik und Reichswehr, um Zeugnisse seiner Studentinnen und Studenten, um Schule und PrĂŒfungen (seines Sohnes Ludwig), um eigene berufliche Perspektiven, um Hauskauf und Hausrenovierung, auch um WohnverhĂ€ltnisse und Nahrungsmittelversorgung.

Die Novemberrevolution 1918, die Abdankung des Kaisers und die Ausrufung der Republik lehnte Heuss zunĂ€chst spontan ab: „Ein wĂŒster Tag“, „MilitĂ€rsabotage des Krieges“, „unwĂŒrdige Kopie russischer Vorlagen“. Heuss’ prozesshafte Geschichtsauffassung bevorzugte die „AnnĂ€herung“ an ein parlamentarisches Regierungssystem als Nahziel. Nach dem politischen Umbruch sah er jedoch die Chance, die sich bot: einen verfassungspolitischen demokratischen Aufbau mit „neuen demokratischen AutoritĂ€ten“ zu schaffen. UnermĂŒdlich hielt er Reden und verfasste Artikel fĂŒr die parlamentarische Demokratie. Kritisch betrachtete Heuss, ganz in der Tradition der Liberalen des VormĂ€rz, die egalitĂ€re Demokratie, die „Massenherrschaft“ bedeute, nur Vertretern einer „Parteiengesinnung“ zur Macht verhelfe und letztlich zu einem reinen Parteienstaat fĂŒhre. Immer wiede betonte er die Verbindung von Demokratie und Nationalgedanke, wenn er ĂŒber das zukĂŒnftige Deutschland schrieb. ...

Die Briefe sollten nicht allein mit Blick auf 1933, auf den Niedergang der Weimarer Demokratie und den Aufstieg des Nationalsozialismus, gelesen werden. Bekannt ist, dass Heuss dessen ideologischen Bestandteile weitgehend durchschaute, wie seine 1932 veröffentlichte und 1968 mit einer Einleitung von E. JĂ€ckel neu herausgegebene historisch-politische Studie „Hitlers Weg“ uns zeigt, ĂŒbrigens das erste einschlĂ€gige Buch zum Thema. Wenn Heuss als Abgeordneter der Deutschen Staatspartei wĂ€hrend einer Auseinandersetzung mit Goebbels, Göring und Strasser im Reichstag im Mai 1932 formulierte, die „Ausstattung des Dritten Reiches“ bestĂŒnde vorwiegend aus „neulackierten und aufgeputzten LadenhĂŒtern der wilhelminischen Epoche“, so wird hier die Grenze der Vorstellungskraft eines bĂŒrgerlichen Liberalen deutlich, denkt man an die von Hitler in „Mein Kampf“ ausgesprochenen Vernichtungsszenarien. Trotzdem: HĂ€tte es in Politik, MilitĂ€r, Presse, Wirtschaft und Wissenschaft nach dem verlorenen Krieg mehr solcher Persönlichkeiten wie Heuss gegeben, die Weimarer Republik hĂ€tte grĂ¶ĂŸere Chancen gehabt, an positive TraditionsstrĂ€nge wie Hambach und Paulskirche anzuknĂŒpfen und sich erfolgreich zu behaupten.

In der vorzĂŒglich geschriebenen, von profunden Kenntnissen zeugenden EinfĂŒhrung erklĂ€rt der Bearbeiter und Herausgeber Michael Dorrman AnlĂ€sse, UmstĂ€nde und HintergrĂŒnde der Korrespondenz, informiert ĂŒber Briefpartner, gibt Hinweise auf vorhandene weitere Briefe sowie auf Werke von Heuss. ... Wer gezielt nach Personen sucht, nach LĂ€ndern, Orten, Ereignissen, Begriffen, Parteien, Vereinen, Gesetzen und Verordnungen, Verlagen, Zeitungen und Zeitschriften, die in den Briefen und den Kommentaren, in Vorwort, Zeittafel, EinfĂŒhrung, in den Kurzregesten vorkommen, wird schnell fĂŒndig: die BĂ€nde der Stuttgarter Ausgabe zeichnen sich aus durch ein umfassendes biographisches Personenregister und ein differenziertes stichwortartiges Sachregister. Der nĂ€chste Band „Briefe 1933-1945“ ist bereits auf dem Markt und kann vielleicht die Frage beantworten, wie der liberale Politiker, der gebildete BĂŒrgerliche sich gegenĂŒber den Nationalsozialisten verhielt – wir wissen ja, dass Heuss, der mit seiner Fraktion im MĂ€rz 1933 dem ErmĂ€chtigungsgesetz zustimmte, von ihnen aus allen seinen Ämtern verdrĂ€ngt wurde.

Walter-Siegfried Kircher
 

Theodor Heus, Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945 – 1949. Hrsg. und bearb. von Ernst Wolfgang Becker.
K. G. Saur Verlag MĂŒnchen 2007. 621 Seiten, Ill.; Theodor Heuss, Stuttgarter Ausgabe, hrsg. von der Stiftung BundesprĂ€sident-Theodor-Heuss-Haus. ISBN 978-3-598-25125-2, 39,80 Euro.

 Wenige Monate vor Kriegsende, am 13. Januar 1945, schilderte Theodor Heuss seinen Tagesablauf in einem Brief an den Journalisten und Schriftsteller Wilhelm Stapel:

„Was ich treibe? Sehr viel. Um Âœ 7 Uhr rĂŒttle ich den Heizofen u. besorge ihn, dann steige ich von uns[erem]. HĂŒgel mit zwei Blechkannen in das Dorf Handschuhsheim herab u. hole fĂŒr einige Pfennige »entrahmte Frischmilch«, ich lĂŒfte und mache die Betten [...]. Dies alles nicht wegen einer spĂ€ten Leidenschaft zur bĂŒrgerlichen Idylle [...], sondern weil die gegenwĂ€rtige Weltgeschichte dem Herzen meiner Frau schlecht bekommt [...]. Manche meinten zu meinem 60. Geburtstag ich solle Erinnerungen niederschreiben; ich habe »Hemmungen«. [...] Die Jugend wĂ€re ja ganz reizvoll, [...] aber mein eigener Beitrag als » Handelnder« in der politischen Geschichte ist gering und rechtfertigt ein solches Unterfangen nicht.“

Die beiden Daten, Mai 1945 und September 1949, markieren den zeitlichen Rahmen des Auftaktbands einer auf acht BĂ€nde projektierten Reihe mit Heuss-Briefen, der so genannten „Stuttgarter Ausgabe“. Sie wird herausgegeben von der Stiftung BundesprĂ€sident-Theodor-Heuss-Haus und enthĂ€lt zum grĂ¶ĂŸten Teil bislang unbekannte und unveröffentlichte Briefe, Schriften, Reden und GesprĂ€chsnotizen. Die Periodisierung der einzelnen BĂ€nde orientiert sich an Heuss’ Biographie sowie an bekannten Weichenstellungen der deutschen Geschichte von 1892 bis zu seinem Tod 1963.

Die im vorliegenden Band „Theodor Heuss. Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945-1949“ veröffentlichten 219 Briefe (von etwa 1 500 erhaltenen aus dieser Zeit) sind von nicht zu unterschĂ€tzendem Wert. Heuss war nicht nur Briefschreiber, Biograph, politischer PĂ€dagoge. Gleich im Mai 1945 bekam er die Möglichkeit, seine seit 1905 kontinuierlich ausgeĂŒbte TĂ€tigkeit als Journalist (was er „von Haus aus“ sei, so Heuss am Tag seiner Wahl zum BundesprĂ€sidenten zu einem Reporter der »Neuen Zeitung«“) wieder aufzunehmen: Die amerikanische Besatzungsmacht ĂŒbertrug ihm zusammen mit zwei weiteren Journalisten und Politikern (einem Kommunisten und einem Sozialdemokraten) die Lizenz fĂŒr die NeugrĂŒndung einer Zeitung (der „Rhein-Neckar-Zeitung“ in Heidelberg). ... WĂ€hrend den Verfassungsberatungen im Parlamentarischen Rat 1948/49 (die FDP-Fraktion hatte ihn darin zu ihrem Vorsitzenden gewĂ€hlt) beeindruckte Heuss „durch seine historischen und staatsrechtlichen Kenntnisse, durch seine anspruchsvolle Rhetorik und durch sein ausgeprĂ€gtes Talent zum Ausgleich zwischen festgefahrenen Positionen“ (Thomas Hertfelder).

Es erweist sich als ein guter Griff der Verantwortlichen, an den Anfang der Gesamtausgabe die Edition der „Briefe 1945-1949“ zu stellen, bieten sie doch eine FĂŒlle von spannenden, teils dramatischen Materialien zur Biographie von Theodor Heuss, zum familiĂ€ren Umfeld, zur Staats- und Gesellschaftsauffassung, zum DemokratieverstĂ€ndnis dieses liberalen, bildungsbĂŒrgerlichen Demokraten. Ediert sind: Reden und VortrĂ€ge bei Veranstaltungen und im Rundfunk, Bemerkungen zu Zeitungs-, Zeitschriften- und Buchpublikationen, Notizen ĂŒber Auseinandersetzungen mit Vertretern der ostzonalen liberalen Partei; Briefe an Politiker, Schriftsteller, Wissenschaftler, Verleger, Architekten, US-MilitĂ€rs. Bekannte Namen befinden sich unter den Adressaten: Politiker wie Reinhold Maier, Paul Löbe, Konrad Adenauer, Johannes R. Becher, Carlo Schmid; Schriftsteller wie Alfred Döblin, Josef Eberle und Margret Boveri; Historiker wie Friedrich Meinecke und Willy Andreas; Verleger wie Peter Suhrkamp und Hermann Leins. Die umfangreiche private Korrespondenz mit seiner Frau, Elly Heuss-Knapp, und mit weiteren Familienangehörigen und Freunden zeigen den Anteil nehmenden Menschen Theodor Heuss.

Ohne Wenn und Aber stellte sich Heuss dem „Verbrecherischen“ des Nationalsozialismus und der Haltung der Bevölkerung. „Die Deutschen [mĂŒssen] bei dem Wort Demokratie ganz von vorn anfangen im Buchstabieren...“, zitiert der Herausgeber des Auftaktbandes, Ernst Wolfgang Becker, in seiner profunden Einleitung Heuss aus seiner Rede in Berlin „Um Deutschlands Zukunft“ (MĂ€rz 1946), und wenn die Amerikaner dabei auf Denazifizierung und die Methode der Umerziehung von außen setzten, sprach und schrieb Heuss vom „Weg der Selbstreinigung“ und Erneuerung von innen. Nachsichtiger als andere war Heuss als Minister hie und da, wenn er etwa von Beamten aus der NS-Zeit um „Denazifizierungsbekundungen“ gebeten wurde; doch er verbĂŒrgte sich nur „fĂŒr wirklich ernste FĂ€lle“, die ihm „sachlich und menschlich am Herzen liegen“. In allen anderen FĂ€llen musste er „EnttĂ€uschungen am laufenden Band abgeben“ (Brief v. 27. Mai 1946).
[...]

Walter-Siegfried Kircher

Buchbesprechung Vertriebene

Kossert, Andreas: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945
432 Seiten, Siedler Verlag, MĂŒnchen 2008, € 24,95; ISBN 978-3-8860-861-8

Geschichten von deutschen Vertriebenen hielten nach 1945 schon frĂŒh Einzug in den Heimatfilm, fast immer mit dem Tenor, wie großartig die Integration gelungen sei. Dagegen sucht der Autor des vorliegenden Buches zu zeigen, wie wenig warm der Empfang in der neuen ‘Heimat’ war. Das sei lange verdrĂ€ngt worden und bis heute, so lautet eine der Grundthesen des Vf.s, nicht generell im kollektiven GedĂ€chtnis der deutschen Bevölkerung angekommen. Zwar avancierte etwa der Film „GrĂŒn ist die Heimat“ mit Brigitte Horney und Sonja Ziemann (die Tochter eines Wilderers, beide FlĂŒchtlinge aus Schlesien) sowie Rudolf Prack (als Förster) 1951 gleich zum Kassenschlager und erhielt den „Bambi“, doch K. bescheinigt dem Streifen, lediglich „beschönigenden Integrationskitsch“ zu bieten. Dagegen waren Streifen wie der 1959 gedrehte Film „Nacht fiel ĂŒber Gotenhafen“, der das Drama der „Wilhelm Gustloff“ dramatisierte, beim Publikum nicht gefragt. Das zeige ein großes Dilemma der deutschen Nachkriegsgesellschaften: Im Westen wollte man sich nicht noch an ein weiteres UnglĂŒck, an die Schrecken und Verbrechen der Vertreibung erinnern, nachdem die Erinnerung an die von Deutschen begangenen Verbrechen noch so frisch oder zum Teil schon wieder verdrĂ€ngt war; wollte nicht erinnert werden an die Millionen Vertriebenen und dabei Umgekommenen, nicht erinnert werden an die Isolierung der FlĂŒchtlinge und Vertriebenen in der neuen Heimat. Der Wirtschaftsaufschwung integrierte die „BrĂŒder und Schwestern“ in die Arbeitswelt, was im RĂŒckblick die Illusion einer insgesamt geglĂŒckten Integration beförderte. K. spricht daneben von einem „deutschen Rassismus gegen Vertriebene“. Menschen aus dem Osten waren schon seit langem traditionellen Vorurteilen ausgesetzt, galten als halbe Slawen oder wurden pauschal einer nationalsozialistischen Gesinnung bezichtigt und damit fĂŒr die Katastrophe mitverantwortlich gemacht. Es gab im Westen sogar Stimmen, die Flut von FlĂŒchtlingen könnte „unseren angestammten nordischen Charakter“ auslöschen und „unsere nordische VolkstĂŒmlichkeit ... biologisch ĂŒberfremdem, rassenmĂ€ĂŸig auslöschen“. Man nannte die Ankommenden u.a. „FlĂŒchtlingsschweine“, „KartoffelkĂ€fer“, „Polacken“, „40-kg-Zigeuner“; sie wurden beschimpft als „entwurzelt“, „asozial“, „faul und arbeitsscheu“.

Insgesamt konstatiert K. Deklassierung und soziale Isolation, auch weil sich nur wenige Einheimische fĂŒr die Geschichte der Ankömmlinge interessierten. In der DDR sei das Thema Flucht und Vertreibung mit RĂŒcksicht auf das verbĂŒndete Polen und die CSSR unterdrĂŒckt, in der Bundesrepublik gemieden worden. K. spricht von zwei unterschiedlichen Erinnerungskulturen; die eine erzĂ€hlt von Heimatverlust und Ausgrenzungserfahrung nach 1945, die andere, die der Aufnahmegesellschaft, empfand die Vertriebenen als „biblische Plage aus dem Osten“. Vorherrschend jedoch war der Blickwinkel der Westdeutschen, die Perspektive der Vertriebenen fehlte meist oder fand wenig Beachtung. ...

In den 1980er Jahren verĂ€nderte sich der Blickwinkel, und neben die Erfolgsgeschichte traten kritische Bilanzen, wurden die Opfer, ihre Schicksale, ihre Traumatisierung stĂ€rker wahrgenommen. Auch in den Medien und beim Publikum ist ein grĂ¶ĂŸeres Interesse am Thema Flucht und Vertreibung festzustellen. Dokumentationen wie zuletzt „Die Vertriebenen. Hitlers letzte Opfer“ (ZDF), „Die große Flucht. Das Schicksal der Vertriebenen“ (ARD), „Die Gustloff“ (ZDF) sowie der Spielfilm „Die Flucht“ (2007) zeigen dies. Aber erst dann, so K., wenn auch die „seelische Dimension“ der Vertreibung sowie der schwierigen Assimilation in die aufnehmende Gesellschaft ins Bewusstsein aller Deutschen gekommen sei, wenn der „gewaltsame Heimatverlust eines FĂŒnftels der deutschen Bevölkerung als allgemeiner Verlust empfunden“ werde, könne von einer erfolgreichen Integration – statt einer bĂŒrokratischen verordneten und nur materiell gelungenen Assimilation – die Rede sein.

[...]
Die MĂ€r von der gelungenen Integration konnte entstehen, weil die Vertriebenen selbst Leistungs- und Anpassungsbereitschaft an den Tag legten, ihre Arbeitskraft einsetzten, Kaufkraft beisteuerten, zum Wirtschaftswunder beitrugen. Deshalb sei es an der Zeit, ihre Verdienste vermehrt in den Blickpunkt zu stellen, sie als Agenten der Modernisierung der Bundesrepublik zu beschreiben, die eingeschliffene Traditionen, alteingesessene Milieus und kulturelle Konventionen in Frage stellten und letztlich „zu einem Modernisierungsfaktor ersten Ranges“ wurden.

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Walter-Siegfried Kircher      

Siehe auch: “geschichte fĂŒr heute” 3/2009, S. 127-130, Wochenschau-Verlag
www.wochenschau-verlag.de