Buchbesprechung: Ein „anderes Buch“? Ein anregendes Buch? Ein zur Lektüre empfehlenswertes? Auf jeden Fall ein unkonventionelles Buch – selbst für „Die Andere Bibliothek“, deren Buchveröffentlichungen als „abseits des Mainstreams“ sich bewegend (Wikipedia) gelten, oder als die „Schönste Buchreihe der Welt“ (DIE ZEIT), und für die nach eigenem Bekunden „nur Originalität und Qualität … zählen“ Die Buchreihe hat, diesem Anspruch entsprechend, seit ihrem Bestehen 1985 wunderbar gestaltete Bände von so bekannten Autoren wie Ernst Moritz Arndt, Charles Darwin, Denis Diderot, Edward Gibbon, Alexander von Humboldt, W. G. Sebald, Iliia Trojanow, Karl August Varnhagen zu Ense herausgegeben. Und dann als 385. Band ein Buch von dem Medien- und Kulturwissenschaftler Frank Böckelmann und dem Publizisten, Übersetzer, Rundfunk- und TV-Autor Dietrich Leube, ein Werk über „… Auswege in Wort und Bild“, über Katastrophen, Kriege, Verfolgung, Gefangenschaft, Lebenskünstler, Träume, Bedrohungen u. v. a. m.: Alle, alles „auf erstaunliche Weise“ zum Guten „gewendet“, alles „Erscheinungsformen der unabsehbaren höheren Gewalt“ (Einleitung S. 9). Da, auf der ersten Textseite schon, beginnt der Rezensent sich seiner Augen zu vergewissern und zurückzublättern zum aus Botho Strauß‘ „Herkunft“ ausgeliehenen Motto des Buchs: „Eigentlich gibt es keine erfüllte Erwartung. Es gibt die enttäuschte Erwartung und all das Schöne, das unerwartet geschieht.“ Was kann man von einem Buch mit diesen Titeln und Untertiteln erwarten? Werden die Erwartungen erfüllt? Worin liegt „das Schöne“, worin liegen die „Enttäuschungen“, so es diese gibt? Der zunächst vorherrschende Eindruck: ein wirklich schöner, außergewöhnlicher Band, angefangen vom Einband über die Gestaltung, den Satz, die Schrift bis zum verwendeten Papier (ressourcenschonend hergestellt). Eine klar und übersichtlich gegliederte Inhaltsangabe erwartet uns, dezent gesetzte, knappe Fußnoten und ein übersichtlicher Bildnachweis (der in vielen Büchern oft einem Suchspiel gleichkommt). Überflüssig sind die ockerbraunfarbigen Doppelseiten, die jeweils den Großkapiteln vorangehen, zu düster die jeweils anthrazitschwarze Seite plus Kapitelüberschrift vor den anschließenden Katastrophenbeispielen. Die Großkapitel erhalten teils rätselhaft klingende Überschriften („Die Katastrophe – eine große Hand nahm mich hinweg“), teils eher banal anmutende („Ins Freie“, „Warten auf das Glück“, „Aus der Bahn geworfen“). Zitate, Aphorismen von Schriftstellern, Philosophen und weiteren Geistesgrößen auf den Doppelseiten sollen vielleicht bezwecken, diese Überschriften noch weiter ins Rätselhafte zu wenden: „Fröhlich in Schiffbrüchen / Und auf einmal nimmt man wieder Fahrt auf / wie / nach dem Schiffbruch / ein überlebender / Seebär.“ (Guiseppe Ungaretti) – platziert nach „Die Katastrophe – eine grosse Hand nahm mich hinweg“; tröstlicher liest sich da schon: „Das Überraschende macht das Glück.“ (Schiller) – passend (oder vielleicht deplatziert?) beim Großkapitel „Aus der Bahn geworfen“. Die Formulierungen der Überschriften, die gewählten Zitate verstärken den erwähnten unkonventionellen Eindruck. Etwas zu gewollt? Gezieltes Namedropping? Denn auch Kafka, Kleist, Botho Strauß, Goethe werden zitiert; weibliche Autoritäten, wie zum Beispiel Edith von Stein, tauchen selten auf. Die Unterkapitel heißen etwa „Erdbeben“, „Höhlenforscher“, „Alltag im Krieg“, „Verfolgt“, „Exhibitionisten“, „Aus Unheil entsteht Heil“, „Messianismus“, „In Erwartung von Naturkatastrophen“, „Völkerwanderungen“: ein Kaleidoskop menschlicher Schicksale, ein Panorama von Katastrophen, Wundern, Sehnsüchten, Heilserwartungen“? Was wollen die Herausgeber damit signalisieren, weshalb machten sie sich die große Mühe, an die 50 Katastrophenfälle zu recherchieren, zu kommentieren und die Texte, gleich ob selbst verfasst oder als Anthologie präsentiert, auch noch mit Bildern unterschiedlichster Thematik und Provenienz zu unterfüttern? Auskunft darüber müsste die Einleitung geben, überschrieben mit „Erstaunliche Wende“. Und Erstaunliches, gar Seltsames ist da zu vernehmen. Die kaum zu bezweifelnde Aussage: „Von ‚guten Katastrophen‘ ist höchst selten, von ‚bösen Wundern‘ nie die Rede“, lässt die Richtung der Intentionen ahnen – Maßstab dafür, welche Katastrophenfälle ausgesucht wurden, ist allein das „Entkommen“. Alle Katastrophen mit tragischem Ende, gleich welcher Art, bleiben außen vor; die überlässt man den „Anderen“, den populären Medien. Dennoch wird dann, Wortwahl und Stil wenig berücksichtigend, fabuliert, die „plötzliche schlimme Wendung der Dinge … kränkt“ die Menschen (S. 9), „Unvorhersehbares“ ereigne sich „mit jedem Wimpernschlag“, es begegne „uns auch im persönlichen Dunstkreis, … als unerwartete Ablenkung, als Durcheinander, als Einfall oder plötzliches Gelüst“ (S. 10). Spätestens, oder besser, schon hier, ab der zweiten Seite der Einleitung, empfiehlt es sich, die weiteren knapp 20 Seiten derselben kursorisch zu überlesen, diese Melange aus Allerweltsweisheiten, Zitaten aus großer Literatur oder von bekannten Philosophen, aus allenthalben weniger bekannten Texten; so zum Beispiel aus Ursula von Kardorff, „Berliner Aufzeichnungen 1942-1945“, der Ausruf nach einem Luftangriff: „Man könnte die ganze Welt umarmen, die einem wiedergeschenkt wurde“. Und wenn dann, bei Böckelmann und Leube vermutlich unverzichtbar, der poststrukturalistische Denker und Medientheoretiker Jean Baudrillard zitiert wird als Autorität für die These, dass der Menschen angestrengtes Moralisieren „eine absolut frevelhafte Begierde nach dem Einbruch des Bösen … (wie zum Beispiel durch Naturkatastrophen) …“ verdecke, ist es höchste Zeit für die Lektüre der Katastrophenfälle. Denn diese bieten unvergleichliche Fälle von Lebenswitz, Mut zum „Überleben“, überraschenden Wendungen, von menschlichem Erfindungsreichtum – mit gutem Ende. So etwa die Geschichte des südwestdeutschen Schriftstellers und Kriminalautors Heinrich Steinfest, festgehalten in einem Interview im ZEIT-Magazin (1. Mai 2014), für den die Lektüre von Kafkas „Prozeß“, angeregt durch den Deutschunterricht, eine Bannung seiner Ängste und letztlich seine „Rettung“ bedeutete. Oder der Textauszug aus Marie Jalowicz Simon „Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940-1945 (2014)“, der schildert, wie ein Mädchen aus bildungsbürgerlicher, jüdischer Familie mit außergewöhnlichen Mitteln sich der Deportation entzog. Die Fallbeispiele ließen sich weiterreihen, doch der Lektüre dieser optischen und haptischen Prachtausgabe der „Anderen Bibliothek“ soll nicht vorgegriffen werden. Denn jene sind, obgleich nicht selten willkürlich collagiert, der reale Schatz der „… Auswege in Wort und Bild“. Das Blättern im Buch macht sinnliche Freude, die ausgewählten Bilder laden ein ins Reich der Phantasie; die Textauszüge machen Lust, die Originalschriften auszuleihen und zu lesen. Wer sich dann, gewissermaßen als Ausgleich, auch nach Geschichten mit Katastrophen in engerem Sinn, nach Untergängen sehnt, der greife nach dem neuen, unterhaltsamen Erzählband von T. C. Boyle, „Good Home. Stories“, in deutscher Übersetzung 2018 erschienen. Walter-Siegfried Kircher
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